Märchen
Mit den Märchen ist das so eine Sache. Sie sind aus der Mode gekommen und wenn
man sich‘s recht überlegt, so ist dies doch sehr schade.
In meiner Kindheit waren Märchen allgegenwärtig. Im Kindergarten
und später in den ersten Schuljahren fand man überall die
bekannten Figuren der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder
Grimm. Es wurden Theaterstücke aufgeführt, natürlich wieder
vorgelesen, Märchenfiguren wurden zum Fasching
dargestellt und sogar im Lesebuch fand man sie wieder. Im
Fernsehen gab es gerade in den Sechzigern und Siebzigern
viele Verfilmungen durch die DEFA. Meine Mutter las mir
Märchen vor und später las ich sie selbst. Von meinem Onkel
erhielt ich ein dickes Buch mit allen Hausmärchen der
Gebrüder Grimm. Sie wurden mir zu einem lieben Begleiter und dieses Buch wurde
selbstverständlich auch an mein Kind weitergegeben. Außerdem hatte ich eine Sammlung persischer
Märchen. Die russischen Märchen durften ebenfalls nicht fehlen und natürlich waren da auch die
Sammlungen von Hans Christian Andersen und Wilhelm Hauff. Auch hier gibt es besonders hübsche
Geschichten. So gefallen mir von Andersen am besten :
Des Kaisers neue Kleider (es geht um die menschliche Eitelkeit)
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (furchtbar traurig und grausam)
Die kleine Seejungfrau (ebenfalls sehr traurig und fantasievoll)
Die Schneekönigin (ein romantisches Weihnachtsmärchen, was ans Herz geht)
Bei Wilhelm Hauff sind wohl die bekanntesten Geschichten
Zwerg Nase (der Umgang mit Minderheiten)
Der kleine Muck (wieder eine Minderheit, die zum Helden wird)
Das kalte Herz (der Sieg der Liebe über die Gefühlskälte mit dem Schauplatz Schwarzwald)
Die Liste der Grimm-Märchen würden hier jedoch jeden
Rahmen sprengen. Zumindest im deutschsprachigen Raum
trugen wohl Jakob und Wilhelm Grimm die beliebtesten und
somit auch bekanntesten Geschichten zusammen. Auffällig
werden aber die Ähnlichkeiten. Liest man z.B. ein russisches
Märchen, so bemerkt man recht bald, dass der Iwan in einem
ganz ähnlichen deutschen Märchen Hans heißt und auch fast
das gleiche wie dieser erlebt. Der Königsohn heiratet die
Müllerstochter. Der Zarensohn bekommt die Tochter des
armen Bauern. In allen Märchen werden die Bösen besiegt. Die
Guten haben viel zu kämpfen, sind am Ende aber immer die
Gewinner. Dummheit wird in die Flucht geschlagen.
Bescheidenheit und Schläue haben Vorrang. Ehrlichkeit wird
immer belohnt. Arroganz und Hochmut haben keine Chance.
Reichtum ist eine feine Sache, doch nur, wenn man durch Fleiß und Redlichkeit dazu
gekommen ist.
Oft geht man nicht gerade zimperlich mit den Bösewichten um. Hexen werden
verbrannt, gefräßige Wölfe ertränkt. Zugegeben; teilweise geht es sehr brutal zu. Da
gibt es Giftmischer, Kindesentführer, Mord und Todschlag. Noch übler ergeht es den
für meinen Geschmack eher harmlosen Übeltätern bei Heinrich Hoffmann. Dem Struwelpeter werden die langen Haare
übelgenommen. Paulinchen muss jämmerlich verbrennen, weil sie die Streichhölzer nicht liegenlassen konnte, der
Suppenkasper stirbt, weil er einfach keinen Appetit auf das tägliche Einerlei hat. Der Hans muss ertrinken, weil er beim
Laufen nicht auf die Straße schaut, sondern lieber die Wolken am Himmel bestaunt. Dem Daumenlutscher werden die
Finger einfach ganz brutal abgeschnitten. Diese Geschichten halte ich doch für sehr gewalttätig. Trotzdem gehörten auch
sie zu meiner Kindheit und haben mir nicht wirklich geschadet. Manchmal ist es sicher gar nicht so schädlich, mit krassen
Abschreckungsmaßnahmen aufzuwarten, um die lieben Kinderlein tatsächlich wirkungsvoll vor dem Schlimmsten zu
bewahren. Man bedenke, damals war das Fernsehprogramm noch nicht ganz so umfangreich, die Kinofilme vergleichsweise
harmlos und Computer standen in keinem Haushalt. Das alles sind aber heute die Quellen, aus denen die Kinder schon sehr
früh viele starke Eindrücke beziehen. Hier ist Gewalt allgegenwärtig. Dabei ist man schon abgestumpft, denn würde man
wirklich all die schlimmen Dinge, die auf der Welt geschehen und die wir täglich in bewegten Bildern auf irgendwelchen
Bildschirmen sehen, emotional an sich heranlassen, wäre man recht bald reif für die Anstalt. Es wäre einfach nicht zu
verkraften. Und damit sollen schon kleine Kinder fertig werden? Wohl kaum. Denn eines fehlt hier. Bei all den Bildern und
Eindrücken wird wohl auf das Geschehene aufmerksam gemacht, doch nicht eindeutig gesagt, dass dieses gut oder
schlecht ist. Es werden keine Werte mehr vermittelt. Ich denke, das ist das Entscheidende. In all den Märchen, egal, ob
sie eher friedlich oder vielleicht doch auch etwas brutal sind, siegt in jedem Fall das Gute. Es wird eindeutig festgelegt,
was gut und richtig ist und auch, was böse, schlecht und falsch ist. Das Böse wird immer bestraft. Dies
geschieht in der Regel auf abschreckende Weise. Ansporn ist aber in jedem Fall die Tat des Guten.
Ich glaube nicht, dass Geschichten Schaden anrichten können, die viele Generationen beim
Erwachsenwerden geholfen haben. Eher ist es denkbar, dass unsere Gesellschaft heute zusehends
verroht, weil ihr diese alten Werte nicht mehr vermittelt werden. Man bedenke, dass schon allein das
Zusammensitzen und Vorlesen einen wichtigen erzieherischen Aspekt hat. Es dient der Bindung innerhalb
der Familie. Nicht zuletzt fördert es die Fantasie der Kinder und regt diese an, selbst Freude am
Lesen zu haben.
und wenn sie nicht gestorben sind, …