Halle (Saale)
Großer Sandberg Nummer 9
Foto von 1890/1920, Gottfried Riehm, Großer
Sandberg 9 - im Hintergrund rechts die alte
Bürgerschule.
- eine Adresse, die es nicht mehr gibt
Bevor der Schleier des Vergessens alles zudeckt, möchte ich tief in
meinen Erinnerungen graben. Schon jetzt entstehen Zerrbilder und
Lücken. Zwar meine ich, mich an viele Einzelheiten genau zu
erinnern, doch mag ich mich für die Richtigkeit nicht immer
verbürgen. Die Zeit, die Phantasie und auch Wunschdenken spielen
gern üble Streiche. Leider fand ich keinerlei Quellen, mit denen ich
zumindest ein Alter und die ursprüngliche Nutzung des Hauses
belegen könnte. So erzähle ich das, was ich weiß, oder glaube zu
wissen und was noch in mehr oder weniger lebhafter Erinnerung
ist.
Das Gebäude stand mitten im historischen Stadtzentrum von
Halle, im ältesten Teil der Stadt, unmittelbar an der alten östlichen
Stadtbefestigung. Der Große Sandberg ist eine kleine Querstraße
der Leipziger Straße. Seit wann das Haus Nummer 9 Im Besitz
meiner Verwandten war, weiß ich nicht. Vermutlich erwarb es
mein Urgroßvater Gustav Kopf nach dem 2. Weltkrieg, wo er mit
seinem Sohn Albert und dessen Ehefrau in der 1. bzw. 2. Etage
lebte. Im Hochparterre wohnten zu DDR-Zeiten Mieter. Diese
Leute und die Räumlichkeiten habe ich nie kennengelernt.
Das Haus Großer Sandberg 9 war ein relativ schmuckloser Bau. Der untere Teil war massiv gebaut, schien sich aber nach oben
immer mehr zur Leichtbauweise zu verjüngen. Ich bin kein Architekt und beschreibe es daher mit meinen eigenen Worten. Die
große Tür und die großen Fenster im Parterre deuten bereits darauf hin, dass das Gebäude zunächst eindrucksvoller erscheinen
sollte, als es tatsächlich war. Mit jeder Etage wurden die Fenster kleiner und die Räume niedriger. So wirkte das Haus von außen
höher, als es tatsächlich war. Vermutlich befanden sich ursprünglich im Parterre Geschäftsräume oder eine Werkstatt. Leider ist es
mir nicht gelungen die Aufschrift auf dem Schild (siehe altes Foto) zu entziffern. Meine Internetrecherchen ergaben knappe
Eintragungen im Stadtarchiv, worin von einer Freitreppe die Rede war. Angesichts der immer schon sehr schmalen Straße ist dies
kaum vorstellbar. Es ist auch von einem Hinterhaus die Rede. Ich kenne nur einen winzigen Hof, der von einer Mauer begrenzt
wurde, die das dahinterliegende Grundstück am Hansering anzeigte. Diese Gebäude sind natürlich deutlich jüngeren Datums. Also
kann es schon sein, dass das Hinterhaus ursprünglich einmal unmittelbar an der alten Stadtmauer „klebte“. Das Haupthaus soll erst
Mitte des 19. Jahrhunderts um eine weitere Etage aufgestockt worden sein. Stichwort Leichtbauweise; ich würde meinen, da haben
die Bauarbeiter tüchtig gepfuscht. Später komme ich darauf nochmals zurück.
Am häufigsten betrat ich den Großen Sandberg 9 zu Lebzeiten meines Urgroßvaters Gustav Kopf, dem Opa meines Vaters. Dabei
denke ich an das Kopfsteinpflaster, das durch das schmale Sträßchen führte. Über eine steinerne Stufe betrat man das Haus und
stieg einige steinerne Stufen weiter hinauf, um zu den Räumen im Hochparterre zu gelangen. Wie gesagt habe ich diese nie
kennengelernt. Weiter nach oben ging es jetzt über eine dunkle Holztreppe. Spätestens ab hier duftete es immer ein bisschen
nach Weihnachten. Es gibt ganz typische Gerüche, die wir mit unserer Kindheit verbinden. Bei meinem Uropa war es der Duft
nach Holz und Paranüssen. In der 1. Etage stand man zunächst in einer Art Diele, der sich eine weitere Treppe anschloss. Links
beeindruckte mich immer eine große Schiebetür, die in Uropas Küche führte. Die meiste Zeit stand diese offen. In der Küche hielt
man sich auch meistens auf. Rechts der Diele führte eine Tür in das Wohnzimmer. Von dort aus ging es noch weiter ins
Schlafzimmer. Meinen Uropa habe ich als stets fröhlichen, freundlichen Mann in Erinnerung. Für sein Alter war er gutaussehend,
hatte volles weißes Haar, was ich oft kämmen durfte und war stets offen für ein Lied oder Tanz mit seiner Urenkelin. Etwa 1970
ist er verstorben.
Die Treppe ins 2. Obergeschoss war schmaler und steiler. Dort wohnte mein Großonkel Albert mit seiner Frau Käthe. Die
Raumverteilung war genauso wie darunter, doch war hier alles viel niedriger. Ich war selten dort, doch war ich stets sehr
beeindruckt, wenn ich sah, dass es nicht eine einzige gerade Wand gab. Auch die Decke und der Dielenfußboden waren
schräg. Für einen Maler und Tapezierer muss es ein Albtraum gewesen sein dort zu arbeiten. Bei jedem Schritt in den Räumen,
knarrten und ächzten die Dielen. Alles bebte. Als Kind fand ich das lustig. Heute wäre ich um meine Sicherheit besorgt.
Vielleicht ging es auch schon Tante und Onkel meines Vaters so, und sie haben deshalb möglichst wenig Zeit in ihrer Wohnung
verbracht. Zudem war es ganz sicher kein Vergnügen, gerade in der kalten Jahreszeit immer den Weg auf‘s stille Örtchen zu
bewältigen. Das befand sich in Form eines Plumpsklos auf dem Hof.
Eine weitere Treppe, die man eigentlich nurmehr als Leiter bezeichnen konnte, führte noch höher. Inwieweit das Dachgeschoss
ausgebaut war, vermag ich nicht zu sagen. Auf alle Fälle mussten Schornsteinfeger, Antennenbauer & Co recht tollkühne
Burschen gewesen sein.
Himmel und Erde – Es gab auch einen Keller. Angesichts des hohen Parterres muss der etwa auf Straßenniveauhöhe angelegt
worden sein. Bedeutete das, es gab gar kein tieferes Fundament? Auf jeden Fall war der Raum sehr niedrig. Ein Erwachsener
konnte darin nicht ganz aufrecht stehen.
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erstellt 2017, veröffentlicht 2019