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Seit einigen Jahren schossen Einrichtungen mit dem Angebot für Physiotherapie wie Pilze aus dem Boden. Gab es die auch früher schon so zahlreich? Ich kann mich nicht erinnern. Auf jeden Fall hatte ich nie etwas damit zu tun. Jetzt erschien täglich jemand, um mir zu helfen meine alte Beweglichkeit zurück zu erlangen. Ein Lichtblick war da immer eine Frau mit einem sehr jungen Mann im Schlepptau. Sie war etwa in meinem Alter, vollschlank und eine Frohnatur. Wäre ich ihr unter anderen Umständen begegnet, hätte ich sie vielleicht für eine Marktfrau gehalten. Sie schwatzte mit jedem fröhlich und hätte sicher mit Leichtigkeit einen 10-kg- Kartoffelsack verkaufen können, obwohl der Kunde sich nur eine einzige Mahlzeit zubereiten wollte. Der junge Mann war ein Schüler im Praktikum. Er übernahm den sportlichen Teil. Eines Tages begrüßte sie mich lachend und meinte, ich sehe heute aus wie Mecki. Klar, eine Haarwäsche war überfällig und wahrscheinlich wäre man beleidigt, so verglichen zu werden. Ich konnte ihr nicht böse sein und lachte mit. Der junge Mann schaute etwas irritiert und wir klärten ihn auf, wer oder was denn Mecki ist. Die Tage auf der Intensivstation waren unruhig und anstrengend. Man bot mir eines Abends ein Mittel an, was mich besser schlafen ließ. Ich nahm es und fühlte mich wie leicht beschwipst. Kurz bevor ich einschlafen konnte, wurde ein Wagen mit diversen Aufbauten hereingerollt. Ein Mann wollte meine Lunge untersuchen. Ach, ich war doch gerade so schön müde. Er sprach sehr wenig, doch ich hörte einen schwachen Akzent, den ich nicht zuordnen konnte. Wasser in der Lunge. Aha. Und was bedeutet das? Seine Antwort war alles andere als beruhigend. Man sticht mit langen Kanülen ein und pumpt ab. Es wird punktiert. Panik machte sich in mir breit, als ich Einzelheiten wissen wollte und er mir keine Auskunft gab. Bei so viel Zeit zum Nachdenken scheint alles noch viel auswegloser. Zwangsläufig malt man sich die schlimmsten Szenarien aus. Ich bin sicher, die Last der Sorgen bildet eine enorme Barriere auf dem Weg zur Heilung. Wie erholsam ist es da, wenn jemand kommt und sich einfach mal ein paar Minuten Zeit nimmt. Ich erinnere mich nicht, wie es überhaupt dazu kam. Eine Schwester saß nachts an meinem Bett und ich sprach über meine Sorgen. Da war ihre Kollegin, die mich nicht leiden konnte, die Unterstellung, ich sei seit Jahren depressiv, die fehlende Intimsphäre. Inzwischen hatte ich auch kennengelernt, wie demütigend es sich auf einem Schieber anfühlt und von der Hilfe anderer Menschen abhängig zu sein. Die aktuell größte Sorge galt meinem Mann. Morgen sollte seine Mutter beigesetzt werden. Ich konnte ihm nicht zur Seite stehen, ihm keine Stütze in diesem unendlich schweren Moment sein. Über all das sprach ich nun mit der jungen Nachtschwester. Es war ein gutes Gefühl, auch wenn sie mir nicht helfen konnte. Sie hat zugehört. In wenigen Tagen hatte ich mich deutlich verändert. Man hatte mir starke Antibiotika verabreicht, ebenso Kochsalzlösung. All diese Infusionen bewirkten, dass sich Wasser in meinem Körper einlagerte. Arme und Beine wurden immer dicker und schwerer. Nur gut, ich hatte all meinen Schmuck zu Hause abgelegt. Mit meinen Ringen wäre es jetzt zu einem riesigen Problem gekommen. Die Veränderung vollzog sich jedoch auch im Kopf. Die fröhliche, unbekümmerte Ilona gab es nicht mehr. Nach der Unterstellung war sie wohl wirklich an der Schwelle ein depressiver Trauerkloß zu werden. Wozu war ich noch gut? Was vermochte ich noch ohne Hilfe auszurichten? War ich nicht einfach nur noch eine furchtbare Belastung für all meine Mitmenschen und sogar für mich selbst?
Umzug ins Einzelzimmer „Dr. Stephanie Barnett“ erklärte mir, es gäbe keinen Grund, nur wegen Fieber länger auf der Intensivstation zu bleiben. Sobald Platz ist, würde man mich auf eine „normale“ Station verlegen. Gegen Abend brachte man mich tatsächlich einige Etagen höher, wo man extra meinetwegen ein Einzelzimmer geräumt hatte. Ich hatte doch diesen Keim. Einzelzimmer ... wie privilegiert! Der Begriff Besenkammer hätte es treffender formuliert. Das Zimmerchen war winzig und wurde nun von meinem Bett dominiert. Ursprünglich war es wohl wirklich als Wirtschaftsraum angedacht. Ein winziges Bad mit Waschbecken und Toilette schloss sich an. Gegenüber gab es ein großes Fenster, vor dem ein Balkon verlief. Dahinter jedoch fiel ein einzigartiger Blick über meine Stadt Halle. Ich befand mich im 9. Stockwerk eines Hochhauses, das wiederum auf einem kleinen Berg erbaut war. Besonders mein Halle bei Nacht sah beeindruckend aus. So kannte ich meine Stadt noch nicht. Bis alles richtig eingerichtet war, beobachtete ich das Treiben auf der Station. Wie ein Dirigent leitete ein junger Pfleger die Patienten und Kollegen an. Der Pfleger war ein sehr zierlicher Knabe, der aber wohl ganz genau wusste, was zu tun war. Ein älterer Patient im Trainingsanzug fühlte sich offenbar als very important person und gab im breitesten Dialekt zu allem seinen Senf. Hauptsache laut und wichtig dachte wohl noch ein weiterer Kandidat aus dem Zimmer gegenüber. Mit schnarrendem Befehlston gab er Anweisungen. Ich hörte regelrecht den Radetzkymarsch. Na, das konnte ja spannend werden. Von jetzt an kam täglich jemand, der meine Essenswünsche für den kommenden Tag notierte. Die Auswahl war reichlich, die Qualität gut. Natürlich kann man es nicht immer jedem recht machen. Und natürlich schmeckt es nicht immer wie bei Mutti. Manchmal aber sogar besser. Grundsätzlich muss ich sagen, egal ob Kröllwitz oder später Dölau; das Essen gab nirgendwo Grund zur Klage.