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Begegnung mit dem goldenen Westen
100,- DM
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In Schönefeld stiegen wir schließlich aus. Inzwischen war es hell und ein strahlend schöner, sonniger, aber eiskalter Wintertag. Wir wussten nicht, wohin es nun ging, hatten auch kein konkretes Ziel; einfach nur Westberlin. Seltsamerweise überlegten wir auch nicht viel, sondern ließen uns einfach in dem Menschenstrom mittreiben. Etwa einen km liefen wir zum Grenzübergang. Dabei forderte man zweimal den Visastempel. Schließlich befanden wir uns im Stadtteil Rudow. Am Straßenrand lagen große Stapel Zeitungen, die man uns kostenlos überließ und die anlässlich der momentanen Geschehnisse gedruckt wurden. Sie sollten einer besseren Orientierung dienen und waren natürlich auch mit viel Reklame gespickt. Das war interessant für uns, denn wir kannten das ja nicht in dieser Form. Schließlich erwarteten uns Busse. Nein, da war kein Fahrplan und wir wussten auch nicht, wohin diese Busse fuhren, aber alle stiegen ein, also taten wir es auch. Nun ist aber Bus nicht gleich Bus. Wir befanden uns jetzt nicht in einem unserer Ikarusbusse, sondern in einem riesigen, schicken Doppeldeckerbus. Erstrebenswert war natürlich ein Platz in der oberen Etage. Oh, wir waren überwältigt! In diesem Bus hat es tatsächlich angenehm geduftet! So sauber! Und sauber war es wirklich! Keine dreckigen Gummimatten, sondern richtige Auslegware auf dem Boden und die Sitze hatten Samtbezüge. Es gab sogar einen Waschraum und eine Toilette. Dazu rumpelte der Bus nicht etwa knatternd über das Land, sondern schwebte beinahe ruhig und sanft. Wir fühlten uns wie die VIPs (ein Begriff, den ich erst viel später kennenlernte). Auf alle Fälle war allein diese Busfahrt ein unvergessliches Ereignis. Sie hatte nur einen Nachteil; sie war ganz kurz, denn der einzige Zweck war es, die Menschen vom etwas abgelegenen Grenzübergang zur nächsten U-Bahnstation zu bringen. Und wieder gingen wir einfach nur den anderen Leuten nach. Alles strömte in den U-Bahn-Tunnel und dort in den nächsten Zug. Wohin fuhr der eigentlich? Hin und wieder war der Name „Neuköln“ gefallen. Tatsächlich stiegen dort die meisten aus. Also taten wir es ebenfalls.
Ja, und da war er also: der goldene Westen … und wir mittendrin! Eine breite Straße, Häuser; die meisten wohl zu Anfang des Jahrhunderts erbaut, weder schön noch hässlich, eigentlich ganz normal und gar nicht ungewöhnlich. Wir liefen die Straße entlang, vorbei an vielen Geschäften und fanden recht bald eine Bank. Als DDR-Bürger waren wir es ja gewohnt, uns in eine lange Warteschlange einzureihen, wenn es etwas Besonderes gab. Für jeden 100,-DM war etwas ganz besonders Besonderes. Wir mussten gar nicht so lange warten, legten jeweils unseren Ausweis vor und mit einer eleganten Bewegung beförderte der junge Mann am Schalter einen Hundertmarkschein aus seiner Hemdbrusttasche, in der noch ein ganzer Packen steckte. Meine Mutter fühlte sich sichtlich unwohl. Am liebsten wäre sie nun sofort wieder zum Bahnhof gestürmt. Sicher lag das an der Müdigkeit und an den Strapazen, die da hinter ihr lagen. Wie gern hätten wir uns nun alles in Ruhe angesehen. Vor jedem Schaufenster blieben wir stehen. Da gab es Autos, die man kaufen und sofort mitnehmen konnte. Dort war ein Fischladen. Seeehr lecker, aber viel teurer als bei uns. Und dort gab es Obst und Gemüse. Welch eine Auswahl! Erdbeeren Ende November? Die Händler waren keine Deutschen. Wir kauften ein paar Bananen, wie sich das für einen braven DDR-Bürger gehört. Man möchte schließlich seinem Image gerecht werden. In einem Zeitschriftenladen sahen wir uns staunend um. Sooo viele bunte Zeitschriften! Und so viele Nackte auf den Titelseiten. Das war neu! Der Verkäufer erlaubte uns, ruhig in die Hefte reinzuschauen, auch wenn wir nicht kaufen. Wir trauten uns gar nicht recht. Das gab es einfach nicht bei uns. Schließlich kauften wir ein Heft mit Horoskopen (Schwachsinn, aber diese Art von Literatur wurde in der DDR überhaupt nicht vertrieben) und für Yvonne ein Pumuckl-Magazin. Meine Mutter drängte immer wieder zur Eile. In einem Plus-Markt kauften wir noch ein paar Süßigkeiten. Immerhin war ja in einem Monat Weihnachten. Meine Mutter wollte einfach nur noch nach Hause und so wartete sie am Eingang. Dabei hörte sie, wie die Verkäuferinnen entsetzlich schimpften. Die Ossis würden ihnen alles wegkaufen. Nun ja, ich bin sicher, sie haben es gerade noch so überlebt, für kurze Zeit nicht das volle Sortiment an Schokolade anbieten zu können. Die Regale waren dort tatsächlich ziemlich leer. Eines sah sehr interessant aus. Wir verharrten vor einem Ständer, an dem solche glänzenden, verschiedenfarbigen Dinger hingen. Wir hatten absolut keine Idee, was das wohl sein könnte, wozu man es wohl benutzte. Es sah einfach nur schön aus. Wir staunten wie die Kinder vor dem geschmückten Weihnachtsbaum und waren damit des Rätsels Lösung ganz nah. Bei den glänzenden Dingern handelte es sich um Lametta. Wir kannten doch nur diese etwas zerknitterten, silbernen Alustreifen. Westlametta hingegen war glatt, glänzender, schwerer, ganz anders verpackt und in verschiedenen Farben erhältlich. Ist so viel Naivität noch steigerungsfähig? Ja, aber dazu komme ich später noch. Wir machten uns nun wirklich auf den Heimweg. Schon von weitem sahen wir die Menschenmassen am Bahnhof. Züge in die unterschiedlichsten Richtungen fuhren in ganz kurzen Abständen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass auch die wieder brechend voll waren. Diesmal mussten wir zwar nicht frieren, ganz im Gegenteil. In dem total überheizten Packwagen gab es kaum Möglichkeiten, sich festzuhalten. Viele saßen deshalb auf dem Boden, wie später auch unsere Tochter, die da sogar einschlief. Die Fahrt wollte einfach kein Ende nehmen. Mit 90 Minuten Verspätung kamen wir schließlich in Halle an. Wir waren erschöpft und die Füße brannten. Vorerst waren wir von Berlin geheilt.