 
  
 
 
 
  Begegnung mit dem goldenen Westen
 
 
 
 
 
  100,- DM
 
 
  
  
 
  So sah diesmal die Seite im Tagebuch aus. Darunter habe ich die Fahrkarte der DR geklebt.
 
 
  Meinem Vater war es aus beruflichen Gründen nicht möglich gewesen, an diesem Donnerstag mit uns fahren. Er reiste dafür am 
  Samstag allein. Wir hatten ihm alles genau beschrieben, ihm unsere Eindrücke geschildert und er fand sich auch gut zurecht. Er hatte 
  sogar besonderes Glück! So führte ihn der Weg vorbei an einem Laden, an dem draußen Ständer mit diversen Zeitschriften aufgestellt 
  worden waren. Ja, für uns hatte man auch Zeitungen an den Straßenrand gelegt. Mein Vater fand nun sogar bunte Zeitschriften. Weil 
  meine Mutter so gern Kreuzworträtsel löste, suchte er alle Rätselhefte heraus. Da dies ja nun doch recht viele waren, ging er in den 
  Laden, grüßte freundlich und bat um eine Tüte. Man reichte sie ihm, er packte die Zeitschriften ein und verließ den Laden glücklich 
  und mit dem besten Gewissen der Welt. Ja, als wir nun diese Geschichte hörten, brachen wir in schallendes Gelächter aus. Mein Vater 
  war wohl der ehrlichste und gutmütigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Richtig; wir hatten ihm von den kostenlosen 
  Zeitungen am Straßenrand erzählt, ebenso von den bunten Werbeprospekten vor einem Reisebüro. Das musste wohl der Grund 
  gewesen sein, weshalb mein Vater der Meinung war, alles, was außerhalb eines Ladens lag oder stand, konnte einfach mitgenommen 
  werden. Zudem war es zu DDR-Zeiten überhaupt nicht üblich, irgendwelche Waren unbeaufsichtigt draußen abzulegen. 
  Erstaunlicherweise wurde er dort gar nicht gefragt oder zurückgerufen. Mit so viel Dreistigkeit hat wahrscheinlich niemand gerechnet 
  und darum war man einfach nur sprachlos.
  In den kommenden Tagen wurden alle Preisrätsel gelöst und eingesendet. Gewonnen hat dann tatsächlich unsere Yvonne, die eine 
  Frage in ihrem Pumuckl-Magazin richtig beantwortet hatte. Dafür bekam sie ein hübsches Kinderbuch.
  Dies war nun die erste Begegnung mit dem „goldenen Westen“. Meine Absicht war es nicht, ein Loblied auf 
  die Wende zu singen oder mich über die zahlreichen Nachteile zu beschweren, die sie uns brachte. Ich möchte 
  auch keine politischen Diskussionen auslösen oder resümieren. Es schien mir einfach erzählenswert, wie 
  meine Familie mit dieser neuen Situation konfrontiert wurde. Die unfreiwillige Komik bietet dem Leser 
  hoffentlich eine gute Unterhaltung.
   
   
  
 
 
  