zuletzt aktualisiert 2020
Der Marktplatz meiner Stadt bietet so viel Sehens- und Wissenswertes, dass man sich dafür am besten in das Straßeneiscafé setzt,
von wo man bei einem leckeren italienischen Eis einen guten Überblick hat. Vielleicht noch einen Cappuccino und dann sollten
wir unseren Spaziergang durch die Altstadt beginnen.
Verlassen wir nun also den Marktplatz in nordwestliche Richtung. Vorbei am Marktschlösschen betreten wir die große
Klausstraße, einem alten Handelsweg in Richtung Mansfeld und Kassel. Die Straße führte durch das ehemalige Klaustor über die
Klausbrücke und über die Mansfelder Straße in Richtung Westen. Des öfteren wurde ich gefragt, wer denn der Klaus sei, nach
dem hier in der Stadt Straßen, eine Brücke und sogar Berge benannt sind. Gern nenne ich dann meinen Gatten, der diesen
Vornamen trägt, doch dieser erfreut sich tatsächlich weniger Berühmtheit. Inzwischen habe ich Informationen eingeholt und kann
berichten, dass der heilige St. Nikolaus Namenspate war, der Schutzpatron der Fischer und der halleschen Salzquellen.
Doch zurück zur Klausstraße. Schon nach wenigen Schritten erblicken wir eins der schönsten und
besterhaltenen Fachwerkhäuser der Halleschen Altstadt. Das Graseweghaus, erstmals 1577 in den
städtischen Schöffenbüchern erwähnt, konnte glücklicherweise vor dem Verfall gerettet werden. Von
1620 bis 1871 befand sich im Graseweghaus eine Weißbäckerei. Es wurde später zu einem Mietshaus mit
kleinem Laden umgebaut. Heute wird es von Künstlerfamilien bewohnt. Um das Graseweghaus rankt
sich eine schaurige Geschichte. Eine grausige Pestwelle verschonte auch Halle nicht. Die Angst vor
Ansteckung war groß und als in der Straße der Schwarze Tod ausbrach, mauerte man flink alle Zugänge
der Straße zu. Kranke und Gesunde, die sich dort befanden, waren eingesperrt, und obgleich sie
erbärmlich jammerten und flehten, überließ man sie ihrem Schicksal. Erst 10 Jahre später wagte man es,
dieses Viertel wieder zu öffnen. Man fand die Skelette der Unglücklichen. Weil alles mit Gras
überwuchert war, nannte man die Straße fortan „Graseweg“.
Wäre der Erhalt so wertvoller geschichtsträchtiger Architektur nicht mit ungeheuren Kosten und Umständen verbunden, hätten wir
heute in dieser Gegend sicher noch viel mehr solcher eindrucksvollen Gebäude. Stattdessen ist die Altstadt gespickt von tristen
Betonklötzen, die einst Ausdruck moderner DDR-Baukunst sein sollten. Fairer Weise muss man sagen, in einem Land, in dem es
an Wohnraum mangelte, das Wort „Mangel“ in fast allen Situationen auftauchte, hatte man weder Geld noch Sinn für
Denkmalpflege im Wohnungsbau. Wer wollte schon in einem alten, schiefen Haus leben, ohne Komfort und mit vielen
Einschränkungen? Selbst wenn man gewillt war, fehlte es an Materialien diese Häuser vernünftig bewohnbar zu machen. Damals
mussten die Gebäude verfallen und als nichts mehr ging, wurden sie abgerissen. Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln hat man
dann das Beste draus gemacht. So haben sich Architekten und Bauleute tatsächlich sehr bemüht das Moderne, Komfortable in das
Alte einzufügen.
Heute sind Materialien vorhanden, um die alte Substanz so erhalten, dass die Auflagen des Denkmalschutzes eingehalten werden
können. Allein am Geld mangelt es. So spielen viele Besitzer auf Zeit, um ihre ganz eigenen Interessen zu verfolgen, ungeachtet
irgendwelcher Denkmäler und Traditionen.
Es gäbe jedoch noch eine Alternative. Dazu nenne ich die Große Klausstraße 3. Zu DDR-
Zeiten ist mir das Haus in unmittelbarer Marktnähe nie aufgefallen; alt, grau, schief, wie
viele andere Häuser auch. Erst als der Putz abgebröckelt war und das alte Fachwerk
sichtbar wurde, erkannte ich den historischen Wert des Gebäudes. So etwas durfte nicht
einfach verfallen, um irgendwann dem Erdboden gleich gemacht zu werden. Doch lange,
lange geschah nichts und der Zustand des Gebäudes verschlechterte sich zusehends.
Irgendwann brachte man eine Glastafel an, die die Geschichte des Hauses beschrieb. Dort
nannte man es „Spukhaus“. Gut, in einem solchen Gebäude MUSSTE es natürlich
spuken. Die Tafel verblieb dort jedoch nur wenige Wochen und der Verfall setzte fort.
Nun war wohl das Renaissance-Gebäude wirklich nicht mehr zu retten. Doch dann
geschah das Wunder. Man trug Stein für Stein, Balken für Balken ab, nummerierte alles
fein säuberlich, restaurierte, was nötig war, ergänzte und baute schließlich wieder auf,
was bereits für verloren gehalten wurde. Im Sommer 2014 fielen die Gerüste. Im selben
Atemzug wurde das Nachbargebäude rekonstruiert. Es war schon etwas früher fertig und
beherbergt jetzt u.a. ein kleines Lokal. Zusammen mit dem Graseweghaus haben wir in
unserem Stadtzentrum ein exemplarisches Ensemble historischer Gebäude. Ach, gäbe es
auch für einige andere Häuser dieser Stadt ein solches Happyend.
“Spukhaus”
2010. Der
Verfall
schreitet
massiv voran.
2010 war für kurze Zeit
eine Glastafel
angebracht, auf der man
etwas zur Geschichte
des Hauses lesen konnte.
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Das “Spukhaus” 2009