Wie so oft ging ich mit meinem Vater in den kleinen Tante-Emma-Laden mit den
hohen Regalen, den Sauerkrautfässern, den großen Bonbongläsern und den beiden
netten Verkäuferinnen, die fast jeden ihrer Kunden mit dem Namen ansprachen.
Mein Vater verlangte dies und das. Die Ware wurde über den hohen Ladentisch
gereicht, er bezahlte, aber da fehlte doch noch etwas!
“Vati, bekomme ich noch meinen Schokoladenlutscher?”
“Nein, heute nicht.”
“Warum nicht?”
“Heute gibt es keinen Lutscher für dich!”
Na, das darf doch wohl nicht wahr sein!? Warum will er mir keinen Lutscher
kaufen? Sonst habe ich doch immer einen bekommen. Ich war weder ungezogen,
noch habe ich irgendwelche Dummheiten gemacht. Also wo ist das Problem? Mutti
hat mir ja von dem kleinen Zauberwort erzählt. Also versuchen wir es auf die ganz
liebe Tour.
“Bitte, bitte, lieber Vati, kauf mir einen Schokoladenlutscher!”
“Nein!”
Bei Mutti hat das immer funktioniert. Warum nicht bei ihm? Nun werde
ich aber langsam böse. Versuchen wir es also mit der Tränenmasche.
Wimmernd zog ich meinen Vater am Hosenbein und bettelte. Diese
unschuldigen, weinenden Kinderaugen mussten jedes Erwachsenenherz
zum Schmelzen bringen. Doch alles Bitten und Betteln half nicht. Er zwang
mich Gewalt anzuwenden. In meinem Zorn stampfte ich mit den Füßen und
schrie:
“Ich will, ich will, ich muss einen Schokoladenlutscher haben!”
Das war die letzte Instanz. Dabei wusste ich damals schon, dass ich damit erst recht keine Chance
auf einen Erfolg hatte.
“Nein, ich kaufe dir keinen Lutscher!”
Einen triftigen Grund für seine Entscheidung konnte er mir nicht nennen. Warum dann diese hartnäckige Sturheit?
Sowas muss bestraft werden! Während mein Vater damit beschäftigt war, seine Einkäufe zu verstauen, drehte ich
mich flink um und verließ ungesehen den Laden.
Nun muss ich erwähnen, wir wohnten damals in der Nähe des Halleschen Hauptbahnhofes, mitten im Herzen der Stadt. Schon zu
dieser Zeit kreuzten die am stärksten befahrenen Straßen gewissermaßen vor unserer Haustür. Deshalb entstand hier, am ehemaligen
Thälmannplatz, eine der ersten Ampelanlagen in Halle. Ja, und genau hier, im dicksten Verkehrsgewühl, beschloss eine 3jährige
Krabbe, ihrem ach so ungerechten Vater einen Denkzettel zu verpassen. Mir, seiner einzigen, angeblich so geliebten Tochter den
gewünschten Schokoladenlutscher zu verwehren, das schrie nach Rache. Wenn ich ihm weglaufe, würde ihm das schon leidtun.
Gesagt, getan, Klein Ilona schaute aufmerksam nach links und nach rechts, so wie es sie die Eltern gelehrt hatten und überquerte die
starkbefahrenen Hauptstraßen. Ich wusste nicht, wohin ich eigentlich gehen sollte. Ich hatte auch nicht die Absicht, zu lange
herumzulaufen. Der Vater sollte sich nur ein wenig sorgen und seinen Fehler einsehen. So schaute ich mir die Schaufenster der
Geschäftsstraße an und bummelte in Richtung Markt. Nun ist es in diesem Alter nicht besonders interessant, allein durch die
Einkaufsstraße zu spazieren. Also beschloss ich, mal wieder zu Hause vorbeizuschauen.
Dort kam ich auch wohlbehalten und freudestrahlend
an. Meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf
zusammen und mein Vater suchte mich immer noch.
Oh, das gab ein Donnerwetter! Ich fand diese
Standpauke nicht so toll, deshalb zog ich es vor, in
Zukunft nicht mehr auszubüchsen, wenn ich mich
mal wieder über meine Eltern ärgerte.
Auch wenn es hier extrem ruhig
aussieht,war der Thälmannplatz
schon immer ein wichtiger und
nicht ungefährlicher
Verkehrsknotenpunkt.
Dabei war Vati doch sonst immer
so lieb.
Die Leipziger Straße verläuft
zwischen Bahnhof und Markt.
Früher fuhr hier sogar die
Straßenbahn. Kleine Mädchen
sollten hier nicht allein
herumirren.